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Der Herbst (German Writing)

Der Herbst
[German Writing / 3-Image-Series]
Never Fade Into Nothingness (Max Richter)
In einem Anflug von Träumerei stelle ich mir vor, dass sie tanzen könnten, die Bäume vor meinem Fenster. Dass sie nach mir greifen, mich an den Händen nach draußen ziehen würden, damit wir zusammen, bei Wind und Sturm, die eigene Sterblichkeit feiern könnten, sind doch auch ihre Wurzeln, gleich den meinen, nur eine Frage der Zeit, und damit nebensächlich. Und während wir dort tanzen, das Rauschen des Aufbruchs um uns herum, fällt von den Bäumen das Laub ab, wie Tage von meinem Leben.

Draußen vor dem Fenster stürmt es. Ein lautes Rauschen zieht durch die großen Bäume hindurch, so als könnten sie sich ihrer nicht mehr sicher sein, müssten mit jedem Anlauf, und jeder Böe, um ihr Leben fürchten. Es ist, als wolle der Wind sie schüttelnd zur Besinnung bringen oder besser gleich in die Ferne davontragen. Doch, für den Augenblick, ohne Erfolg, standhaft wie sie bleiben, nur ebenso schwankend wie erzitternd mehr und mehr ihrer Rüstung einbüßen. Bäume, von denen das Laub fällt wie Tage von meinem Leben. Es ist Herbst geworden, denke ich mir bei meinem Blick hinaus, doch fürchte ich insgeheim, längst jedes Zeitgefühl verloren zu haben. Vielleicht, ohne je eines gehabt, oder schlicht vergessen zu haben, was es bedeutet, wenn sich Tage und Jahreszeiten aneinanderreihen, wie sie das schon seit jeher tun. Stattdessen trägt es alles an mir vorüber, und das macht mir Angst. Angst, weil ich dem nichts entgegenzusetzen habe; und Angst, weil das alles leise, nicht laut geschieht. Ich weiß nicht einmal, was geschehen müsste, damit es anders wäre. Vielleicht ist das, weil ich mich schon so lange vom Wind tragen lasse, dass ich ganz vergessen habe, wie es ist an einem Ort verwurzelt zu sein und von dort auf die Zeit hinauszublicken. Längst frage ich mich, ob wir sie alle nicht wie ein Kleid tragen. Eines, das immer weniger, immer lichter wird, bis irgendwann nichts mehr davon zu sehen ist, wir schon bald ganz schutzlos zurückbleiben. Dass wir dann, wenn es erst einmal so weit ist, uns zwar selbst am nächsten, aber allen anderen am fernsten sind. Und auch wenn ich weniger werde, Tage und Wochen hinter mir lasse wie Träume, wird mir dabei nicht leicht, sondern schwer ums Herz. Nicht älter werde ich, denn ich vermag nichts anzusammeln, aber auch nicht jünger, liegt doch schon lange kein Leben mehr vor mir. Und überhaupt, mehr als ein Könnte ist das Leben doch nie für mich gewesen.

Ich glaube, der Herbst ist ein ums andere Mal mehr Reminiszenz als Aufbruch. Er gleicht einem Brennglas auf das vergangene Jahr, das zurückliegende Leben, lässt mich erinnern und für einen Augenblick glauben, ich könnte in der mir noch verbleibenden Zeit etwas bewirken. Dass ich eine letzte Chance hätte alles, was auch immer das sein mag, ins rechte Licht zu rücken. Nicht einmal, dass ich mein Leben tatsächlich ändern, aber mit ein wenig Glück nur einfach von einem in ein anderes springen könnte. Doch es gelingt mir nicht. Weder in diesem, noch irgendeinem anderen Jahr. Ehe ich mich versehe, wird es Winter sein. Ich werde, gleich der Bäume vor meinem Fenster, kahl und alleine in Welt und Landschaft stehen. Vielleicht werde ich vorgeben von besseren Tagen zu träumen, doch insgeheim, auch wenn ich es nicht erklären kann, auf den nächsten Herbst warten. Der nächste Herbst, von dem mich nur ein Jahr trennt. Ein Jahr, das vielleicht nicht nichts ist, aber auch kaum mehr. Und wenn ich den Blick einmal nicht länger nach draußen, sondern innen richte, fürchte ich, dass wir das letzte Kleid uns selbst sind. Aber sehen, sehen kann das außer uns ohnehin niemand.

2022/09/07, Teil III der 'Vier Jahreszeiten' (Draußen vor dem Fenster)
Der Herbst (German Writing)
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