Hier der von mir sellbst gestalteter Cover für eine Kurzgeschichte, die ich in 2014 geschrieben habe. Es ist eine surreale Kurzgeschichte, die ein ruhiges Tempo hat, in eine verzaubernde Stimmung versetzt und das Licht auf die Geheimnisse des Lebens wirft... doch weniger mysteriös wird es nicht.
Ich wünsche euch viel Vergnügen beim lesen :)
 
 
QUE SERA
 
In ihrer Manteltasche klimperten die letzten Münzen und der kleine Schlüssel, im Kopf rotierten Worte des alten Songs: que sera, sera, whatever will be... Die Strassen waren leer zu der nächtlichen kalten Stunde und nur manchmal sah sie jemanden, der genauso wie sie, alleine, mit eingezogenem Kopf irgendwohin ging.
Bevor die Sonne aufgeht werde ich sterben, dachte sie, oder eher wusste sie. Ohne, dass sie etwas dafür tun würde. Sie wusste es genauso gut wie jeder von uns weiss dass morgen die Sonne aufgeht. Für sie war es der letzte Sonnenaufgang, den sie heute früh sehr bewusst erlebte. Vor sechs Uhr morgens stand sie auf, beobachtete den Sonnenaufgang und beschäftigte sich für den Rest des Tages damit, ihre Güter zu verschenken – ihre Kleider, ihre Bilder, ihre Möbel, ihr Haus, ihr Auto, ihr Schmuck, ihr Geld. Bald würde sie sich von ihrem letzten verabschieden – von ihrem Leben.
Ich möchte nicht alleine sein, wenn das geschieht. Es war der einzige Wunsch, den sie noch übrig hatte.
 
Jemand begrüsste sie auf der Strasse. Er hatte eine angenehme ruhige Stimme. Sie schaute ihn an. Er war gross, gutaussehend, und hatte ein schönes Lächeln. Das Lächeln tat ihr weh, es erinnerte sie an ihren verstorbenen Mann, den sie vor einem Jahr verloren hatte. Das Lächeln in das sie sich verliebt hatte und das sie am schwersten loslassen konnte. Das Lächeln, das die Welt verloren hatte. Er war 27. Sie jetzt auch.
 
“Ich mag deine Bilder”, sagte der Mann.
“Welche davon?”, fragte sie.
“Am liebsten mag ich die Lovers.”
“Die Lovers...”, wiederholte sie leise. Es gab wenige Menschen, die dieses Bild gesehen hatten. Sie hatte es für sich und ihren Mann gemalt. Es war der Ausdruck ihrer Liebe. Das Bild hatte sie niemandem geschenkt. Sie liess es in ihrem Atelier hängen. Im leeren weissen Raum. Nur ein einziges Bild.
“Woher kennst du dieses Bild?”, fragte sie ihn.
“Ich kenne einiges”, sagte er. Und fügte hinzu: “Du hast ein grosses Herz und besitzt eine seltene Schönheit, derer sich nicht jeder sofort bewusst wird, nicht mal du selbst. Die Frauen beneiden dich. Die Männer werfen dir heimliche Blicke zu. Sie trauen sich nicht dir anzunähern, weil dich zu verlieren einen grossen Schmerz bedeutet. Dein Mann wusste es.”
“Kanntest du meinen Mann?”, fragte sie.
“Nein.”
“Bist du ein Wahrsager?”
“Jeder Mensch der tief wahrnehmen kann ist irgendwo ein Wahrsager“, sagte er.
Es wurde plötzlich kälter. Sie fing an leicht zu zittern. Das Gesicht des Unbekannten veränderte sich ein wenig. Eine kaum wahrnehmbare Veränderung – und sie entging ihr nicht. Nie vorher konnte sie so wahrnehmen. Er legte ihr einen Schal um die Schultern.
“Möchtest du einen warmen Tee?”, fragte er.
“Ja”, sagte sie.
 
Er bot ihr seinen Arm und sie bogen in eine kleine stille Strasse ein, die sie, obwohl sie dort sehr lange wohnte und die Gegend sehr gut kannte, nie bemerkt hatte. Es schien dort wärmer zu sein. Die nahstehenden Häuser reflektierten die Wärme. Es war nicht nur die äussere Wärme, sondern die wohlige Wärme, die man spürt, wenn man einschläft. Etwas sehr beruhigendes lag in der Luft.
Vielleicht bin ich schon tot, dachte sie.
“Noch nicht”, sagte er und es schien ihr als ob er ihre Gedanken lesen würde, “…nicht mehr lange, und wir sind da.”
 
Sein Haus stand am Ende der Strasse. Etwas Magisches hing in der Luft und je näher sie seinem Haus kamen, desto mystischer schien die Umgebung zu sein. Ein seltener Baum stand in seinem Garten vor dem Eingang. Obwohl es Spätherbst war, hatte er noch Blätter und diese waren blau.
“Ich habe nie so einen gesehen”, sagte sie.
“Das gibt es auch nur einmal in dieser Stadt.”
Es kam ihr seltsam vor. Ein Baum mit blauen Blätter, der nicht in Obhut des botanischen Gartens übernommen wurde.
“Den darf man nicht umpflanzen”, sagte der Mann. Er sät seine Samen wo es ihm passt und wenn man ihn umpflanzt, stirbt er. Es gab drei in dieser Gegend. Vor langen Zeit. Das ist der letzte. Ich mache dir einen Tee aus seinen Blätter. Er suchte sorgfältig drei Blätter aus und nahm sie mit ins Haus.
Sie hatte nichts dagegen, sie wusste, da sie sterben wird, hatte sie nichts zu verlieren.
“Er ist nicht giftig”, sagte der Mann, “er zeigt dir nur eine andere Welt.”
“Ob sie mir gefallen würde?”
“Sie wird”, versicherte er.
“Kannst du von jedem Menschen Gedanken lesen?”
“Das kannst du auch.”
“Das weiss ich nicht”, sagte sie und lächelte.
Er bot ihr einen Platz in seinem Wohnzimmer an. Sie blieb stehen und sah sich um. Es war ein geschmackvoll eingerichtetes Zimmer. Die Farben, die Möbel und die Bilder passten sehr gut zusammen, und es sah nicht danach aus, als hätte er die Gemälde nur zur Dekoration ausgesucht. Jedes davon hatte ein Geheimnis, jedes war wichtig.
 
Er legte die Blätter ungewaschen in ein Glas und stellte den Wasserkessel auf den Herd. Sie schaute ihm zu.
“Man darf sie nicht waschen, siehst du diese feine silberne Schicht darauf und diese kleinen Tropfen an den Spitzen? Sie gehen sonst verloren. Nicht auf jedem Blatt gibt es diese Schicht und die Tropfen.”
“Deshalb hast du solange danach gesucht?”
“Ja.”
“Du hast sehr beeindruckende Bilder in deinem Haus.”
“Danke. Jedes davon hat eine grossartige Geschichte. Wenn du sie genau betrachtest,  entspricht jedes einer Emotion.”
Das Wasser kochte. Er goss es über die Blätter und ein feiner köstlicher Duft, den sie nie vorher gerochen hatte verbreitete sich im Raum. Eine Pflanze mit einem solchem Duft konnte keineswegs giftig sein. Sie schloss die Augen und genoss ihn. Der Duft entspannte alle ihre Sinne und Muskeln und füllte sie mit Ruhe und Frieden. Ein Friedensbaum, nannte sie ihn für sich.
'Tancorix, nennt man diesen Baum. Ein Friedenskönig”, sagte er.
Sie öffnete ihre Augen und er bot ihr das Glas an.
Sie nahm es mit beiden Händen und merkte, dass das Glas nicht zu heiss war. Sie hatte genau gesehen, dass er das kochende Wasser hineingoss. Die Temperatur aber war genau so, wie sie es mochte - nicht zu heiss und nicht zu lau. Sie schaute den Mann überrascht an. Sein Gesicht veränderte sich wieder ein bisschen.
“Es wird auch so bleiben, egal wie lange du es stehen lässt. Wenn es mein Getränk wäre, wäre es viel kühler als dein.”
“Kann es...?”
“…die Temperatur für jeden persönlich einstellen? Ja.”
Sie roch daran. So aromatisch.
“Trau dich.”
 
Sie nahm sehr vorsichtig einen kleinen Schluck von dem Getränk, das langsam und ständig die Farben wechselte. Das waren die klarsten Farben, die sie je gesehen hatte. Der feinste Geschmack verbreitete sich an ihrem Gaumen und in ihrem ganzen Körper. Sie schaute den Mann wieder an. Und wieder bemerkte sie eine kleine Veränderung, dieses Mal nicht nur in seinem Gesicht, sondern sein ganzer Körper schien sich ganz leicht kaum merkbar zu verändern. Sie fand ihn schön.
Was bedeutet das?, dachte sie.
Es bedeutet, dass du die Realität sehen kannst. Die Natur aller Dinge ist die Veränderung, antwortete er in Gedanken, und sie realisierte, dass sie seine Gedanken lesen konnte.
Sie nahm noch einen vorsichtigen Schluck zu sich. Ihr Körper wurde zu einem leeren Gefäss, in dem tausende Prozesse stattfanden. Alles bewegte sich, alles floss, alles rauschte. Ihr Herz transportierte mit jedem Schlag das Blut durch ihre Adern. Ihre Lungen öffneten sich und zogen sich wieder zusammen. Sie schaute ihren Gegenüber an. Und wieder veränderte er sich. Es war die Alterung, sie realisierte es. Und gleichzeitig wurde er schöner. Vor ihr stand ein schöner Mensch. Ob sie jetzt jeden so sehen würde?
“Du siehst die Dinge, wie sie gerade sind”, sagte er ohne jeglichen Hintergedanken.
Ob die Dinge, die wir anfassen oder kreieren etwas von unseren Gefühlen oder unseren Gedanken aufnehmen?, fragte sie sich.
Schau dich um, antwortete er in Gedanken.
Sie ging wieder in den Raum mit den Bildern. Mit jedem Schritt notierte sie kaum wahrnehmbare Veränderung der Dinge. Alles lebte, alles flimmerte, alles veränderte sich fliessend, alles ausser der Temperatur ihres Getränks.
Seltsam, dachte sie, die Temperatur bleibt, als ob die Zeit auf dieses Getränk keine Wirkung hätte. Sie bekam keine Antwort von dem Mann.
 
Sie betrachtete die Bilder. Die Farben und Motive schien lebendig zu sein. Noch nie hat sie ein Kunstwerk so gesehen wie jetzt. Einen Moment verschlug es ihr den Atem.
“Sie leben!”, sagte sie und nahm ihre eigene Stimme wie ein Wunder an. Kein Instrument der Welt und keine andere Stimme klang so, es war absolut einzigartig. Und es wird nie wieder dieselbe geben.
Der Mann legte ganz sanft seinen Zeigefinger auf ihre Lippen.
Wir werden noch reden, dachte er.  Du wolltest zuerst sehen.
 
Sie trank wieder einen kleinen Schluck und schaute wieder die Bilder an. Neun Gemälde. Jedes Bild repräsentierte ein Gefühl – Angst, Wut, Begierde, Trauer, Stolz, Freude, Hass, Hoffnung, Scham. Sie schaute alle genau an, erlebte die ganze Palette der Gefühle mit und erkannte – ein Bild fehlte. Sie schaute den Mann wieder an. Sie wusste warum sie ihm begegnet war. Sie hatte vorher nie eine solche Sammlung gesehen. War es ihre Wahrnehmung oder waren die Bilder tatsächlich etwas Besonderes. War es nur eine Sammlung oder hatte dieser Mann damit etwas vor?
Sie bekam keine Antwort. Der Mann schaute sie nur an, als ob er von ihrem Misstrauen  enttäuscht sei. Sogar so sah er noch schöner aus.
Die Sonne würde bald aufgehen.
“Die Liebe?”, fragte sie.
“Ja”, sagte er. “Wenn du etwas dafür zu haben wünschst, bekommst du es.” sagte er und seine Stimme klang genau so einzigartig und wunderbar wie ihre.
“Kein Wunsch der Welt wird meinen Mann wieder lebendig machen”, sagte sie.
Er schaute sie verständnissvoll an. “Es gilt nur für die Lebenden. Mit dem nächsten Schluck kannst du deinen Tod abwenden.”
 
Sehr vorsichtig, mit beiden Händen, stellte sie das köstliche Elixir, nach dem sie sich schon sehnte, auf den Tisch ab.
“Ich danke dir.” Sie kam näher zu ihm und gab ihm einen Kuss, der so süss war wie sie es nur mit ihrem Mann hatte erleben können, nur ohne die Wirkung des magischen Getränks. Sie holte den Schlüssel ihres Ateliers aus ihrer Manteltasche und gab ihn dem geheimnisvollen Unbekannten. Eine Träne lief seine Wange hinunter als er ihn wie den kostbarsten Schatz entgegen nahm. Eine klare schöne Träne.
“Leb wohl”, sagte sie und schloss ihre Augen.
Er legte seine Hände um ihren Hals.
 
© 2013
 
 
 
 
 
QUE SERA
Published: