Mein erstes Kunstfoto

Meine Laufbahn als Kunstfotograf begann unspektakulär und ohne jede künstlerische Absicht. Ich war Visual Expert der europaweit tätigen Edinburgher Ghosthunter Task Force (GTF) und für die Entwicklung bildgebender Verfahren zur Sichtbarmachung paranormaler Phänomene zuständig. Mein Spezialgebiet war u. a. die Modifikation der Sensoren von Digitalkameras, so dass sie auf die spezifischen Spektraleigenschaften von Existensformen ansprachen, die umgangssprachlich gemeinhin als "Geist", "Gespenst", "Phantom" usw. bezeichnet werden. Die besondere Farbgebung meiner hier gezeigten Kunstfotografien basiert zum Teil auf der Verwendung derart modifizierter Kameras (Bildbearbeitungsprogramme kommen bei mir nur wenig, und wenn, dann sehr zurückhaltend zum Einsatz; im Grunde könnte ich jedes meiner Fotos mit dem Hashtag #nofilter versehen).

Eines Tages erhielten wir den Auftrag, das Haus eines leidenschaftlichen Buddelschiffsammlers zu untersuchen. Der Mann hatte über 1000 in Flaschen abgefüllte Modell-Wasservehikel zusammengetragen. Eine fantastische Sammlung, wie wir später sehen durften. Seit geraumer Zeit wurde sein Haus von Geräuschen heimgesucht, deren Ursache er nicht finden konnte. Klirren, Klötern, Poltern, lautes Sägen und vor allen Dingen: Flüche. Seemannsflüche. Seemannsflüche, die in ihrer Roh- und Derbheit den Satan aus der Hölle und Christus vom Kreuz treiben würden. Nach einem halben Jahr war der Mann nervlich so stark angeschlagen, dass er bereit war, die nicht gerade zahmen finanziellen Konditionen zu akzeptieren, die unsere Arbeit in seinem Haus mit sich bringen würde.

Wir richteten uns in dem Haus ein, platzierten unsere diagnostischen Apparaturen an den üblichen charakteristischen Punkten und warteten ab. Und hatten Erfolg, wie die hier gepostete Aufnahme eines Flaschengeistes beweist. Man beachte die hervorragende, hochauflösende Bildqualität und die große Detailgenauigkeit der fotografischen Wiedergabe jener gespenstischen Kreatur (im Gegensatz zu den verwaschenen, fehlbelichteten, nicht anders als hundsmiserabel zu nennenden stümperhaften Versuchen sogenannter "Geisterjäger" und paranormaler Sonstiwasse, ein solches üblicherweise nicht sichtbares Wesen bildlich festzuhalten)! Es ist das erste Foto, das ich mit einem mittels oc-blue-co-color-Technik modifizierten Sensor aufgenommen habe und mein erstes, im weitesten Sinne aufgrund seines besonderen Stils als künstlerisch anzusehendes Foto.

Zu sehen ist die postmortale Repräsentanz eines altniederländischen Schipwrak-Bouwwmeesters, der sich in einer alten, leeren Vitriol-Flasche seine Werkstatt eingerichtet hatte und seitdem dort seiner Tätigkeit im Kleinen nachgeht. Schipwrak-Bouwwmeester, "Schiffswrack-Baumeister", waren ab dem 17. Jh. in den Niederlanden Schiffskonstrukteure, die insbesondere Schiffen der Handelsflotte das Aussehen von schwimmenden Wracks bzw. Geisterschiffen verliehen, um sie auf diese Weise vor den An- und Übergriffen feindlicher Flotten, Piraten etc. zu schützen (die Legende vom "Fliegenden Holländer" z. B. geht auf solche hochseetaugliche "Handelswracks" zurück). Der übergroße Aberglaube der Seeleute jener Zeit sorgte dafür, dass sie in riesigen Bögen um die vermeintlichen Geisterschiffe herumkreuzten.

Nach erfolgreichem Abschluss unserer Mission (der Schipwrak-Bouwwmeester kann heute in einem kleinen Museum in Neuharlingersiel besucht werden, wo er nach wie vor als Modellbauer tätig ist) flogen wir nach Edingburgh zurück, um auf unseren nächsten Auftrag zu warten. Warten. Manchmal hieß das wochenlanges Nichtstun. Meistens vertrieben wir uns dann die Zeit mit der Erfindung plausibel klingender Lügengeschichten, bis sich die Balken unseres Edingburgher GTF-Headquarters krachend und splitternd bogen. Und nicht ganz ohne Stolz darf ich sagen, dass ich unter meinen Kollegen als der überzeugendste Lügner galt, den sie bis dahin kennen lernen durften. Aber das ist eine andere Geschichte.

FLASCHENGEIST
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