Ich stehe im Wohnzimmer meines Vaters. Der Raum liegt im Bauch eines großen Segelschiffs. Die Wände des Zimmers sind mit dunklem Holz vertäfelt und dicke Balken stützen die hölzerne Zimmerdecke, über der das Schiffsdeck verläuft. Die Sessel und Couchgarnituren werden von schummrigen Lampen beleuchtet und tauchen das Wohnzimmer in behagliches Licht. Ich fühle mich zuhause und geborgen.
Im hinteren Teil des Raums sitzt mein Vater in einem Sessel und liest ein Buch. Ich gehe auf ihn zu und setze mich auf das Sofa gegenüber. Er sieht er auf und legt sein Buch zur Seite. Wir kommen ins Gespräch.
„Wie laufen die Experimente in deinen Klarträumen?“, erkundigt er sich.
Verlegen muss ich zugeben, dass ich meine Erfolge noch nicht steigern konnte und nur im Wochentakt ein neues Gedicht im Klartraum erzeugen kann. Ich ernte einen enttäuschten Blick von ihm.
„Doch nur, weil du in Wahrheit Angst davor hast“, schließt er.
Ich ärgere mich und schimpfe: „Du bist wie Mutter! Sie wollte mir früher auch einreden, dass ich Angst davor hätte, von Zuhause auszuziehen. Und dass ich deswegen wohl ständig schlecht träume. Ich kann die Scheiße nicht mehr hören!“
Mein Ärger schlägt in Wut um.
„Jeder unterstellt mir irgendwelche Ängste! Wovor soll ich im Klartraum Angst haben? Wenn ich doch dabei weiß, dass ich träume!“
Ich werde immer zorniger und erhebe mich vom Sofa.
„Habe ich denn vor irgendetwas Angst?“, zische ich und gehe drohend auf ihn zu.
Vater antwortet nicht. Noch immer sitzt er in derselben Position in seinem Sessel. Aber der Ausdruck in seinen Augen teilt mir mit, dass er verstanden hat. Jetzt bedauere ich fast meinen Wutausbruch, doch ich drehe ihm den Rücken zu und verlasse das Wohnzimmer. Sein abfälliger Kommentar hat mich zu sehr verärgert.
Während ich durch einen dunklen Korridor laufe, denke ich nach: Wovor habe ich eigentlich Angst?
Ich male mir eine Schlägerei aus, in der ich umkomme. Dabei versuche ich herauszufinden, ob ich diesen Moment am meisten fürchte.
Um die Ecke, am Ende des Korridors, scheint Licht. Ich laufe darauf zu und biege in einen anderen Raum ab: In die Küche. Meine Mutter backt Brote.
Die Backluft des Ofens steigt mir freundlich in die Nase. Angetan schnüffele ich und möchte meinen Ärger mit etwas Leckerem besänftigen. Neben meiner Mutter, die mit dem Rücken zu mir an der Küchentheke hantiert, stapeln sich Backbleche von der Arbeitsplatte bis zur Küchendecke. Auf jedem der Bleche liegt ein frisches Weißbrot, das mit einem Stück cremefarbenem Backpapier umwickelt ist. Die Brotlaibe sind nicht viel höher als Baguettes, bedecken aber mit ihrer ovalen Form die gesamte Fläche der Backbleche. An ihren Enden verjüngen sich die Laibe zu knusprigen braunen Zipfeln, wie die einer krossen Laugenbreze. Auf die hellbraune Kruste ist feines Mehl gepudert.
Angetan schmatze ich und mein Mund wird so wässrig, dass ich sofort zugreifen muss. Auf Zehenspitzen fingere ich nach einem der Weißbrote, das zuoberst des Stapels liegt und über dessen Kante hinausragt.
Es bricht auseinander. Seine Papierhülle zerreißt und ich halte nur noch den knusprigen Zipfel in meinen Fingern. Beinahe wäre der ganze Turm aus Broten und Blechen zusammengestürzt.
Mutter betrachtet mich nachdenklich.
Ich knurre und knirsche mit den Zähnen. Völlig gereizt verlasse ich die Küche.
Auf einmal komme ich an einem anderen Ort zu mir: Ich hocke hinter einem Stromkasten.
Es ist Nacht. Eine Lagerhalle auf dem Industriegelände hinter mir ist mein Ziel. Ohne gesehen zu werden, will ich das Gelände betreten und in die Werkshalle einbrechen. Ich kauere hinter dem weißen Elektrokasten, um die letzten Autos auf der Straße abzuwarten. An der Seite des Kastens luge ich hervor und beobachte den Verkehr durch die Löcher meiner Sturmmaske.
Die Straße vor mir ist nur auf hundert Metern Länge einsehbar. Ihr weiterer Verlauf ist hinter dichten Baumreihen verborgen. Mehrmals zucke ich, um loszurennen, aber jedes Mal reiße ich mich wieder zurück. Denn ständig kündigt ein schwacher Schein eines entfernten Frontlichts das nächste Fahrzeug an. Obwohl es mitten in der Nacht ist, nimmt die Autoschlange kein Ende. Ich verstehe die Situation nicht mehr: Warum sind noch so viele Autofahrer auf den Straßen?
Notgedrungen harre ich aus und beschließe, auf eine passende Gelegenheit zu warten. Mit einem Mal erkenne ich jedoch, dass der Stromkasten viel zu nah an der Straße steht und ich von den Seiten leicht zu sehen bin. Jeder der Autofahrer könnte mich bereits entdeckt haben. Fassungslos frage ich mich, wie ich so einen dummen Fehler begehen konnte. Mein Herz klopft schneller. Unter der schwarzen Maske aus Stoff wird mir immer heißer. Mein nervöser Atem kondensiert an der muffigen Baumwolle.
Plötzlich vibriert es in meiner Hosentasche. Meine Augen weiten sich vor Entsetzen. Ich muss mein Handy versehentlich mitgenommen haben. Ich wage es nicht, mich zu rühren.
Der Anrufer legt nicht auf. Jetzt habe ich das Telefon eh schon dabei – Ich muss herausfinden, wer mich erreichen will. In Handschuhen fingere ich mein Handy aus der Hosentasche.
Auf dem blauen Display leuchtet: Papa
Ich gefriere vor Schock. Will er mich warnen? Oder will er sich nur wegen vorhin entschuldigen?
Fieberhaft überlege ich in alle Richtungen. Ich erwäge den Anruf anzunehmen, aber denke an die Vorratsdatenspeicherung meines Telefonanbieters. Meine Anwesenheit zum Zeitpunkt des Gesprächs könnte der Polizei dienlich sein und leicht zurückverfolgt werden.
Es vibriert weiter. Die Situation wächst mir über den Kopf – außerdem halte ich mich für mein kriminelles Vorhaben schon viel zu lange hier auf. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen und starre auf die weiße Rückwand des Stromkastens.
Endlich verstummt das Telefon.
Der Verkehr gibt eine Lücke frei und ich schnelle hinter dem Kasten hervor. Ich renne über die Straße, bis mir auffällt, dass dies die falsche Richtung ist. Ich bin so nervös, dass ich gar nicht mehr weiß, wo ich eigentlich hingehen wollte. Mitten auf dem Grünstreifen mache ich kehrt und haste im Lichtkegel von vier Autos zu meinem Ausgangspunkt zurück. Alles läuft schief. Am Horizont graut der Morgen.
Ich bin sicher entdeckt worden, aber breche meine Unternehmung nicht ab – ich renne weiter. Ich blicke an meiner schwarzen Kleidung herunter und auf einmal halte ich auch noch eine Kameratasche in der rechten Hand. Der Rucksack mit dem Werkzeug wird immer schwerer. Die Last droht mich in die Knie zu zwingen.
Unter schwerem Schnaufen schleppe ich mich am Stromkasten vorbei und halte auf das geöffnete Schiebetor des Geländes zu ...
Kurz vor dem Tor schweift mein Blick zufällig auf einen Seitenweg, der versteckt durch die Bäume führt. Dort erhasche ich die Silhouette eines Wagens. Ohne Licht schleicht er heran. Ein BMW-Kombi. Auf dem silbernen Lack schimmern zwei grüne Streifen. Ein roter verläuft darüber. Eine Spezialstreife.
Vor Schreck knicke ich ein – aber sprinte sofort weiter. Der Wagen hat mich entdeckt. Er rollt auf dem knirschenden Kies näher – Der Rückweg ist verstellt. Ich muss aufs Gelände flüchten.
Mit all dem klappernden Gepäck renne ich durch das Industrietor. Gerade noch rechtzeitig bremse ich ab, bevor ich gegen das Heck eines weiteren Wagens pralle. Noch ein Polizeiauto. Die Lichter sind abgeblendet aber die roten Rückleuchten glimmen gefährlich. Doch kein Schreien, kein Polizist, der mich verhaftet. Ich ducke mich und gehe hinter dem Kofferraumdeckel in Deckung.
Ich halte die Luft an, bis meine Lungen zu platzen drohen. Nichts passiert. Vorsichtig richte ich mich auf. Durch die Heckscheibe spähe ich ins Innere des Wagens:
Das Rauschen in meinem Kopf macht mich taub. Die Vordersitze des BMW-Kombis sind in Liegestellung. Auf den schwarzen Lederpolstern liegen ein Polizist und eine Polizistin – regungslos. Durch die Heckscheibe erkenne ich das Blitzen von Metall in ihren Händen. Mit versteinerter Miene kauern die Polizisten auf den Ledersitzen. Sie lauern und warten auf mich – die Waffen geladen, bereit zum Schuss ...
Die Panik packt mich am Kragen. Ich sitze in der Falle.
Doch plötzlich begreife ich, dass alles nur ein Traum ist.
Der Schreck sitzt noch so tief, dass ich einige Atemstöße brauche, um das Erlebnis zu verdauen. Zögerlich übermannt mich die Erleichterung. Sogleich erinnere ich mich an meine Mission: Einen Dichter aufsuchen. Mich interessiert besonders, was der Einsatzleiter zu sagen hat und ich mache mich auf den Weg, ihn ausfindig zu machen. Er muss hier auf dem Industriegelände sein und die Operation koordinieren.
Gemächlich laufe ich um das Auto, in dem die Polizisten kauern und schlendere weiter über das Gelände. Überall erscheinen Polizisten, die mich im Licht der Morgendämmerung reglos mustern. Diese Gelegenheit will ich nicht verschenken, ich darf nicht riskieren, zu früh aus dem Traum zu fallen. Während ich weitergehe, zwinkere ich, um den Traum stabil zu halten und nicht vorschnell zu erwachen. Jedes Mal wenn ich meine Lider wieder öffne, hat sich die Umgebung ein kleines Stück verändert. Weitere uniformierte Beamten erscheinen und vor mir taucht der Anhänger eines LKWs auf. An jeder Ecke des Hängers ist eine polizeiliche Sicherheitskraft positioniert.
Im Laderaum erkenne ich die Uniform eines hochrangigen Beamten. Der Einsatzleiter steht im Inneren. Lässig lehnt er mit dem Rücken an der hinteren Wand des Hängers und erwartet mich. Ich täusche vor, mich gleich ergeben zu wollen, aber verlange als Gegenleistung einen lyrischen Text von ihm. Der Einsatzleiter hebt bedächtig sein Megafon zum Mund und raunt hinein:
"Auf einem kleinen Planeten,
der von uns bestellte,
fragte sich ein Verwandter,
der nicht weit davon lebte,
frohgemut und wohlgemut
ob es denn des Ungemuts genug war."
Das Gerät verzerrt seine Stimme wie ein Ferngespräch und verleiht ihr einen bedenklichen Unterton. Langsam lässt der Mann sein Megafon sinken.
Mit den Worten des Einsatzleiters in meinem Ohr spaziere ich an allen Uniformierten vorbei und begebe mich zurück zu dem schweren Schiebetor. Während ich das Gedicht, welches mir sehr imponiert, vor mich hin murmele, treffen die ersten Sonnenstrahlen auf den rissigen Asphalt. Hinter dem Tor erkenne ich die Autos, die mit grellen Scheinwerfern über die Straße huschen. Mit jedem Schritt spüre ich das nahende Erwachen stärker. Stetig wiederhole ich das Gedicht und warte darauf, von selbst aufzuwachen.
Als würde ich abheben, löse ich mich von der Traumumgebung und die befahrene Straße vor meinen Augen verblasst.
30. Mai 2012 8.16 Uhr
Ich erwache, aber es dauert noch einige Sekunden, bis ich die Augen öffnen und klar sehen kann.