Der Forststeig


Wir drehen den Gaskocher ab und blicken in die Sterne. Der heiße Tee verbrennt einem fast die Finger, sodass ich die henkellose Edelstahltasse in regelmäßigen Abständen von einer Hand in die andere wandern lasse. Trotzdem besser als das Trinkgefäß meines Kollegen, der sich jetzt auch lieber die Finger verbrannt hätte. Seines ist doppelwandig und gibt deswegen kaum Wärme ab. Es ist bereits Oktober und die Nächte werden wieder kälter, zumindest wenn man draußen schläft, so wie wir heute. Es war eine Idee, die eher aus einer Ermangelung an anderweitigen Schlafmöglichkeiten  heraus entstanden ist, wobei man anmerken muss, dass unsere Ansprüche an eine passende Unterkunft anspruchsvoll sind. Seit wir uns 3 Tage zuvor aufgemacht hatten, um den erst im April eröffneten Forststeig in der Sächsischen Schweiz in Angriff zu nehmen, liegen 3 Nächte an wunderbar abgelegenen Hütten- oder Biwakplätzen hinter uns.
'Zu überlaufen', das war die Einschätzung meines Kumpels, als ich ihm den Malerweg als Wandertour durch die Sächsische Schweiz vorschlug. 8 Tage lang und als der schönste Wanderweg Deutschlands beschrieben, hatte ich davon in einem der Wanderbücher gelesen, die weltweit die schönsten Routen empfahl. Das Problem an der Sache ist, dass ebenjene Routen eben so schön sind, dass sie regelmäßig von Scharen von Naturliebhabern überrannt werden. Sie sind dann zwar nach wie vor atemberaubend schön, nur genießt man den Ausblick eben Schulter an Schulter mit der Spezies, von der man eigentlich einen Abstand gewinnen wollte, was sie in ihrem Kern dann wieder etwas weniger schön macht.


Es bleiben also erstens, die weniger schönen Routen, zweitens, die schönen aber noch nicht überlaufenen Routen, in der Praxis oft schwer zu finden, und drittens, die nicht vorhandenen Routen, selbstgeschlagen und zu bewältigen in klassischer Bear Grills-Manier. Unser Kompromiss war nun der Forststeig, angeblich unglaublich schön und durch seine Eröffnung erst wenige Monate zuvor wohl kaum zu überlaufen. Der Weg beruht auf dem Prinzip der weitestgehenden Selbstversorgung. Am Wegesrand findet man in einer Regelmäßigkeit von halben Tagesetappen Hütten oder Plätze zum Campen, die einem das Nötigste bieten: Feuerholz, ein Kompostklo und je nach Einrichtung ein trockenes Dach über dem Kopf oder eine Stelle zum Zelten. Alles andere bringt man selbst mit. Zu verrichten ist dafür eine Gebühr zwischen 5 und 10 Euro in Form von Wertmarken, die man an diversen Verkaufsstellen in der Region erstehen kann. Dass das Ganze auf dem Vertrauensprinzip beruht und gut zu funktionieren scheint, lässt einen tief aus dem Kessel des Glaubens an die Menschheit schöpfen. Bleibt abzuwarten, wie sich das Prinzip bei höherer Frequentierung und größerer Bekanntheit schlägt.


Zumindest bei uns löst es eine ordentliche Schippe Freiheitsgefühl aus, autark ausgestattet in den Wald zu marschieren und sich in völliger Abgeschiedenheit zu wähnen, die eigentlich keine ist. Der Forststeig bekommt es auf seiner gesamten Länge mancherorts tatsächlich hin, sich in der dicht besiedelten Bundesrepublik einmal abseits der Gesellschaft zu fühlen, ohne es tatsächlich zu sein. Vielerorts wurde der Weg neu angelegt und ist nicht mehr als ein Trampelpfad, der sich oft geschickt an größeren Forstwegen und Siedlungen vorbeischlängelt, ohne dass man diese wahrnimmt. Es sind allerdings vor allem die Nächte, die Naturfetischist wie Misanthrop gleichermaßen in Verzücken versetzen. Drei davon verbringen wir vollkommend allein.
Es regnet in der ersten Nacht und wir folgen der schwer erkennbaren Markierung mit Stirnlampen bis zur Grenzbaude, einer alten Stasihütte an der tschechischen Grenze, die nun als offene Hütte für Wanderer dient. Wir erwarten ein prasselndes Kaminfeuer und herzliche Wandergrüße, als wir die Tür öffnen, sind wir allerdings allein und freuen uns darüber, schließlich haben wir genau diese Abgeschiedenheit gesucht. Den im Obergeschoss gelegenen, komplett leeren Schlafraum lassen wir in dieser Nacht einen komplett leeren Schlafraum sein und rollen die Isomatten lieber neben dem Ofen im Aufenthaltsraum aus. Da es keinen Strom gibt, wird der Raum mit Kerzen erhellt. Es gibt etliche Winkel der Erde, wo man unfreiwillig mit einem Verzicht auf derartige Mittel konfrontiert wird, allerdings liegen sie meist nicht in Mitteldeutschland sondern dann doch eher ab vom Schuss. Die Hütten auf dem Forststeig bietet dabei eine angenehm-ungewöhnliche Ausnahme.


Die Etappe des nächsten Tages schlängelt sich gemütlich auf der deutsch-tschechischen Grenze entlang und schließlich jenseits davon über die Hänge des Děčínský Sněžník bis hin zum einprägsamen Turm auf dessen Spitze. Es ist der für mich schönste Abschnitt der Wanderung, der Anstieg durch den herbstlichen Mischwald mit seinen moosüberwucherten Rundsteinen gleicht einer Erkundung im fernen Himmelsrand. Gegen Spätnachmittag führt uns der Weg wieder zurück auf die deutsche Seite, wären der Wald nicht auf der imaginären Linie mit klobigen Grenzsteinen durchsetzt, wüsste ich das jetzt gar nicht. Zumindest die Natur macht keine Unterschiede, ob sie auf der einen oder eben der anderen Seite dieser menschengemachten Einteilung gedeiht. Ich kann es mir zumindest nicht vorstellen.
Und so komme zumindest ich zwangläufig in das wohlige Gefühl der Internationalität, der Grenzenlosigkeit, des Menschseins abseits von nationalen Zugehörigkeiten, des Zusammenhalts, der eine offene, kaum spürbare Grenze heute dort möglich macht, wo sich man sich in den vergangenen Jahrtausenden um jeden Meter gegenseitig die Köpfe eingeschlagen hatte. Aus dieser Perspektive betrachtet haben wir dann doch wohl zumindest in weiten Teilen Europas einiges richtig gemacht.
Die Nacht verbringen wir heute wieder in einer Hütte, diesmal allerdings mit weiteren Vertretern unserer grenzenziehenden Art. Die haben schonmal eingeheizt und machen Bratäpfel, während wir die Isomatten auf den letzten freien Sperrholzpritschen ausrollen. Wo wenig Menschen sind, besitzt man ganz eindeutig einen engeren Bezug zueinander als etwa in der Großstadt. Das gilt für Fremde gleichermaßen, das stelle ich vor allem beim Wandern jedes Mal aufs Neue fest. Wir werden freundlich empfangen und mit Bratäpfeln versorgt. Das Vergnügen ist dann aber eher kurz, die Bratäpfel sind schnell verdrückt und das Ganze Proviantgeschleppe macht nicht nur uns müde.


Beim Zähneputzen empfängt uns der Morgen mit blauem Himmel und morgentlich-klarer Herbstluft und zeigt sich von der Seite, bei der ich mich sonst immer ärger, dass ich sie tagtäglich verpasse. Freiwillig stehe ich leider selten so früh auf, obwohl man schnell auf Touren kommt, wenn man sich erstmal aus dem Bett geschält hat. Dessen bin ich mir zwar auch im Alltag bewusst, allerdings besitzen mein innerer Schweinehund und ich seit jeher eine sehr spezielle Beziehung. Bei herrlichem Herbstwetter geht es ins Einkaufszentrum von Rosenthal, das ein Einkaufszentrum nach dörflichem Maßstab entspricht. Es ist keine Mall die wir ansteuern, sondern eine Agglomeration aus drei Läden der Nachversorgung: Bäcker, Metzger, Tante Emma. Die Nostalgie nimmt uns für einen Moment in ihre faltigen Arme, das ruhige Dorfleben umspült uns mit einer Prise Fortzug, Überalterung und Stillstand. Symbolisch dafür, dass wir am nächsten Tag auf der Suche nach Brot nur dem Pflegepersonal im Altersheim für 2 Euro einen halben Laib werden abschwatzen können weil wir sonst keine Einkaufsmöglichkeiten finden. Vielleicht war es aber auch Sonntag, das weiß ich nicht mehr.

  

Mittlerweile sind wir eingependelt in den Wanderrhytmus. Auf dem forststeigischen Trampelpfad durch die Natur, Aufstieg, Aussicht, Abstieg, Nachtlager finden, Kochen, Trinken, Schlafen. Langweilig wird es deshalb nicht, da die landschaftliche Idylle in gefühlter Abgeschiedenheit der wertvollste Akteur der Route ist. Erst nach ein paar Tagen bekommt man oft das Gefühl für feinste landschaftliche Veränderung und findet ein Gespür für die Nebensächlichkeiten, die sonst im Alltag an einem ungesehen vorüberziehen, aber dem Wandern ebendiese leicht dynamische Beständigkeit geben, die die meisten Wandernden suchen. Die Form von Ästen und Bäumen werden interessant, unterschwellige Geräusche gewinnen an Bedeutung, die Monotonie des Laufens fördert die Suche nach kreativen Zeitvertreiben und bedingen das Erfinden von Spielen oder Liedern. Sie fördern Wesenszüge der Mitmenschen zu Tage, die keinen Platz finden im lauten und hektischen Alltag der Stadt, zwischen Arbeit und Party in der Rushhour in der U-Bahn. Wenn Sie ein Thema haben, das es zu besprechen gilt, obwohl es immer wieder zu Konflikten, Spannung, Ängsten, Stress und zum Beiseiteschieben führt, besprechen Sie es in der Abgeschiedenheit der Natur und es wird nicht selten ein Leichtes werden.


Stockt es mit dem Gespräch, hilft immer noch der Alkohol. Nicht das wir es nötig hätten, aber selbst das Trinken in Abgeschiedenheit ist ein anderes, wie wir in der Nacht herausfinden. Wir schlagen unser Zelt auf einem der gekennzeichneten Biwakplätze auf, er liegt mitten im Wald an einem schmalen Pfad, andere Wanderer sind hier nicht. Da es noch hell ist als die Unterkunft steht, suchen wir auf der Karte den nächstgelegenen Aussichtspunkt, hängen dort die Hängematten auf und löffeln Suppe. Kein Sternerestaurant kann mit einem derartigen Abendessen mithalten, immer gäbe es von mir Abzüge in Punkte Aussicht, Athmosphäre, Authentizität. Immer! Da lege ich mich fest. Wahrscheinlich wäre der Tropfen ein feinerer als unser Dynamo-Dresden-Glühwein von Tante Emma, das gebe ich zu.

  

Wir steigen erst in der Dunkelheit hinab und suchen uns mit Stirnlampen den Weg zurück zum Zelt. Es ist noch zu früh zum Schlafen und so öffnen wir den Tatra-Tee, den 52-prozentigen Schnaps, den mein Wanderkollege von seiner jüngsten Wandertour durch die hohe Tatra in Slowenien mitgebracht hat. Er zeigt uns die tatsächlich Veränderung, die Alkohol mit dem Körper macht in einer Umgebung, in der man sich, wie beschrieben, der Veränderung deutlich bewusster ist als an einem Couchtisch sitzend, Gin-Tonic kippend im WG-Wohnzimmer der Kommilitonen. Es wäre von meiner Seite gelogen, die Situation im Wald als nicht unheimlich zu beschreiben. Nur eine Kerze zwischen uns, verliert sich der passierende Weg bereits nach ein paar Metern in völliger Dunkelheit, wir sehen nichts links, wir sehen nichts rechts. Um uns könnte alles sein. Ich bin mir bewusst, dass dort eigentlich nichts ist aber mein Körper spielt mit Gedanken, schweift ab zu unheimlichen Zeitungsberichten, zu Gruselgeschichten, zu Horrorfilmen. Es ist eigentlich schade, dass man sich vor allem durch Cabin in the Woods oder sonstige schlecht-gemachte Horrorfilme selbst eine Angst über Jahre in den Kopf setzt, nur weil der Film an diesem einen Abend auf dem Sofa eine dumme Idee der Freunde war und damals auf eine plumpe Art und Weise einen Reiz ausgeübt hat. Sicherlich ist Angst ein Urinstinkt den wir zum Überleben benötigen, aber Wrong Turn 1-6 hilft mir sicher nicht dabei. Es wäre interessant zu wissen, wie ich dort im Wald sitzen würde, hätte ich im Leben keinen Horrorfilm gesehen.
Ich werde es wohl nie erfahren und geschilderte Angst spielt auch nur zu Beginn eine Rolle. Der Grund dafür ist der Herr des Hochprozentigen aus den slowakischen Bergen. Mit jedem Schluck schweift das Thema weiter ab von der großen unbekannten Dunkelheit um uns herum. Mit jedem Schluck weicht die Angst einem wohligen Gefühl des Selbstbewusstseins, das kaum noch von der Nacht beeinflusst wird. Redeten wir zu beginn noch leise, riefen wir im Übermut nun in den Wald hinein. Saßen wir zu Beginn noch still auf der Bank, turnten wir jetzt herum und probierten aus, wie lange wir auf einem Bein stehen konnten. Nicht einmal vor dem provisorischen Austreten vor dem Schlafengehen verschwende ich einen ängstlichen Gedanken an die dichte Dunkelheit, in Mitten derer ich nun an einem Baum stehe.


Der Morgen ist wieder freundlich und das scharze Meer war wieder dem sympathischen Onkel Natur gewichen, der uns mit gutem Wetter auf die Tagesetappe einlädt. Es wird eine herrliche, auf dem wir neben dem steinernen Labyrinth auch etlichen freundlichen Wanderern und Dorfewohnern, bei denen wir Wasser auffüllen und Honig kaufen, begegnen und Äpfel und Walnüsse in Mengen von Bäumen sammeln. Über allem steht die Frage des Nachtlagers. Die Route empfiehlt, einen Campingplatz im Dorf zu nutzen, was uns als zu langweilig erscheint. Zu sehr haben wir uns bereits an die Natur gewöhnt. Pünktlich zum Sonnenuntergang finden wir auf dem Quirl eine geeignete Stelle für unsere Hängematten, nah an einer Sandsteinklippe für den entsprechenden Ausblick bei Frühstück und Abendessen und etwas ab von den hiesigen Wegen. Kalt würde es nicht werden, neben den klassischen Zwiebelprinzip ist die in die Hängematte gelegte Isomatte der Schlüssel zum Erfolg. Nur an das Schaukeln muss man sich etwas gewöhnen. Bei jedem Aufwachen entlohnt dafür der Sternenhimmel. Kein schlechter Deal, zumindest wenn man am nächsten Tag frei hat.

         
     
Der Forststeig
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Der Forststeig

Eine Wanderung auf dem Forststeig durch die Sächsische Schweiz.

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