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KUNST: Wie alt wärst du, wenn du ein Gefühl wärst?

Wie alt wärst du, wenn du ein Gefühl wärst?
2010 - in Prozess / Lomographie
Die Wirklichkeit existiert nicht objektiv, als Summe von unbestreitbaren Entitäten und Phänome- nen. Irgendwo im Hinterkopf hat jeder ein tief verwurzeltes Ideal der objektiven Realität, aber das ist eher eine Glaubensfrage. Auch die Wahrnehmung der Zeit und ihres Verlaufs ist eine Sache
der subjektiven Beobachtung - die Wahrnehmung eines Menschen ist geprägt von seiner indivi- duellen Wahrnehmungsphysiologie, seiner Veranlagung und dem, was ihn geprägt hat, nämlich die Vergangenheit.

Vergangene Ereignisse und Mikroereignisse verschwimmen jedoch nicht in der Vergangenheit und werden nicht vollständig vergessen. Auch wenn dies scheinbar der Fall ist, prägt jedes Ereignis das Individuum wie einer von vielen Wassertropfen, die einen Stein zerhauen. Die Erinnerung ist sogar noch subjektiver als die Wahrnehmung der Realität “hier und jetzt”. Die Wahrnehmung ist der Filter, der die Bedeutung von Ereignissen differenziert. Objekte, Ereignisse, Orte, Menschen und ihre individuellen Qualitäten sind für jeden Einzelnen eine unendliche Anzahl farbiger Gläser in einem Kaleidoskop, das sich ständig in Bewegung befindet - es ist unmöglich, alle Nuancen der sich schnell und ständig verändernden Formen zu erfassen, jeder wird ein anderes Detail, eine andere Konfiguration von Farben und Formen sehen/interpretieren/erinnern, und die eigentliche Emp- findung des Phänomens wird dadurch bedingt sein, wer diese Person ist und was sie geprägt hat. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist eine ununterbrochene Séance in einem platonischen Kino, in dem jeder Zuschauer von Anfang bis Ende allein in einem ihm zugewiesenen Raum sitzt. Es ist unmöglich, das Gesehene mit dem Ideal der objektiven Realität zu konfrontieren. Wir jagen ständig danach, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und erhalten stattdessen eine intersubjektive Realität, d. h. den Durchschnitt individueller Beobachtungen, die in Kommunikationsakten gegen- übergestellt werden. Die Unvollkommenheit der Sprache bedeutet jedoch, dass das Gesagte im Verhältnis zu dem, was aufgrund dieser Unvollkommenheit unausgesprochen bleiben muss, eine Minderheit darstellt.
Jedes Wort ist ein Symbol für einen Gegenstand oder ein Phänomen, das einen auf ein Wort ver- kürzten Durchschnitt vieler individueller Erfahrungen darstellt. Das Wort-Symbol ist auch der ein- zige Berührungspunkt zwischen den Individuen, die in den Grenzen ihres “Selbst” eingeschlossen und allein sind. Indem wir “rot” sagen, finden wir einen Punkt des gemeinsamen Verständnisses des Wortes, aber was sich unterscheidet, ist das Unausgesprochene, d.h. individuelle Erinnerungen, Assoziationen und der Akt des Abrufens der eigenen Erfahrung von Rot im Gedächtnis.

Wie das Erinnern ist auch das Vergessen ein wesentlicher Prozess der Selbstformung durch Erfah- rung. Erinnern und Vergessen geben unseren Erinnerungen und dem Blickwinkel der individuellen Zeitperspektive Gestalt.

Das Vergehen der Zeit ist eine ebenso subjektive Erfahrung wie der Gebrauch und das Verständnis der Sprache. Es gibt eine gemeinsame Zeitachse, auf der die aufeinanderfolgenden Minuten, Stunden, Tage und Jahre markiert sind, so dass wir uns, gefangen in unserer eigenen Erfahrung des Vergehens der Zeit, auf einer gemeinsamen Skala wiederfinden können. Es ist eine Binsen- weisheit, dass die Zeit und das Vergehen der Zeit jeden und alles betrifft. Während die Zeit vergeht und wir sie erleben, sehen und spüren wir Veränderungen in uns selbst und in der Realität um uns herum. Der Prozess der Entwicklung und des Erwerbs neuer Erfahrungen ist für jeden Einzelnen sowohl ein Werden als auch ein Vergehen.

Das Ausmaß des Prozesses des Vergehens, vom Entstehen bis zum Verschwinden, ist für verschie- dene Wesen unterschiedlich. “Wenn ich ein Hund wäre, wäre ich jetzt zehn Jahre alt”. - sagt die von Marcin Świetlicki gespielte Figur in dem Film Małżowina. Wie alt wäre er, wenn er ein Mietshaus oder ein Gefühl wäre?

Wenn ich Orte fotografiere, die sich nicht verändert haben, seit ich sie kenne, frage ich mich wirklich, inwieweit sie sich verändert haben, seit ich sie kennengelernt habe, und warum ich den Unter- schied zwischen “damals” und “heute” nicht erkennen kann.
Die Fotografie ist, wie alle anderen Künste auch, noch subjektiver als die Wahrnehmung an sich. Der Bildausschnitt, die Technik und die Bearbeitung des Fotos bilden zusammen mit dem Kom- mentar und der Absicht des Autors nicht so sehr einen Ausschnitt der Realität, der zur Interpretation angeboten wird, sondern eine Interpretation an sich, die zur weiteren Interpretation angeboten wird. Für mich ist das Fotografieren von Orten, die für mich unverändert bleiben, eine Konfrontation meiner Erinnerung, meiner Wahrnehmung, meiner Erfahrung und meines Erlebens dieser Orte mit den Ausdrucksmitteln, die mir durch die Fotografie zur Verfügung stehen.
Wenn ich diese Orte hier und jetzt, gerade jetzt, gestern, vor einer Woche, vor zehn Jahren und als Kind betrachte, habe ich den Eindruck, in einem Zug zu sitzen, der endlos vom selben Bahnhof aus fährt, nur dass es nicht der Zug ist, der sich bewegt, sondern die ganze Welt um ihn herum. Wenn ich die Dinge betrachte, die ich als unverändert ansehe, solange ich mich an sie erinnern kann, fühle ich eine unerträgliche Spaltung zwischen dem Gefühl der Sicherheit, das sich aus ihrer Beständigkeit ergibt, und der Angst, die sich daraus ergibt, wie schnell sie sich verändern, während sie in meinen Augen die gleichen bleiben.
Text: Zofia Wróbel
KUNST: Wie alt wärst du, wenn du ein Gefühl wärst?
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